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 „Bei der Arbeit mit Geräuschkompositionen öffnet sich für mich ein Feld, in dem ich auf das Erschaffen von Bildern verzichten kann; sie entstehen im Kopf, ohne dass ich sie visuell produzieren muss.“

 

Interview mit Anna Schimkat

Anna Schimkat ist eine Klangkünstlerin, die seit 2006 in Leipzig wohnt und arbeitet. Nach der Ausbildung zur Holzbildhauerin widmete sie sich der freien Kunst und später erneut der Bildhauerei, diesmal mit Bezug auf architekturbezogene Medien. Zur Klangkunst kam sie durch die Beschäftigung mit der freien Kunst und durch die Auseinandersetzung mit dem Hören.

Zum Interview treffen wir uns im Ino, einem freundlichen Cafe im Leipziger Westen. Die Kaffeemaschine brodelt, Geräusche von Autos und Straßenbahnen ziehen hinein und das Ticken der Ampel bricht sich in deckenhohen Spiegeln. Unser Gespräch beginnt mit einem Plausch über experimentelle Musik.

Anna Schimkat: In der experimentellen Musik oder in der Klangkunst finde ich es schön, dass sich bildende Kunst und Musik begegnen. Deshalb gefällt es mir auch, neben meiner installativen Arbeit bei experimentellen Musikveranstaltungen live aufzutreten. Die Klangkunst ist ein Schnittpunkt, hier treffen die zwei Kunstarten aufeinander. Es gibt immer wieder Leute, die von der bildenden Kunst kommen, so wie ich. Die meisten aber kommen tatsächlich von der Musik, sind von Haus aus Musiker*innen oder Tontechniker*innen.

Anke Eckhardt zum Beispiel ist eine Klangkünstlerin, aus Köln. Sie ist zuerst Tontechnikerin gewesen und dann über die Musik zur bildenden Kunst gekommen. Sie macht jetzt Installationen. Eine große Installation zum Beispiel, bei der sich Betonbodenteile ineinander verschieben und der Sound entsteht dadurch, dass die Betonteile aneinander schaben, das ist großartig!

Ich komme von der Bildhauerei. Ich habe mir angewöhnt, von der Bildhauerei zu sprechen, weil es den Raum beschreibt – und gehe von dort in die Musik, strecke meine Fühler aus und grätsche mit meinem herrlichen Unwissen rein. Ich habe ein klassisches Instrument gelernt und daher ein musikalisches Grundwissen, habe es aber nicht studiert.

NTCR: Was für ein Instrument hast du gelernt?

Anna Schimkat: Gitarre, 12 Jahre. Da hatte ich auch Musiktheorie, das gehört schon dazu zu einer klassischen Ausbildung. Und meine Mutter ist Musikerin und Architektin und deswegen verbindet sich dass da auch.

NTCR: Und danach hast du Bildhauerei studiert?

Anna Schimkat: Ich habe eine Holzbildhauerlehre gemacht, so habe ich das Handwerk Bildhauerei gelernt: Skulpturen schnitzen, vom Modell abkopieren. Großartig ist, dass ich dieses Handwerk und das erlernte handwerkliche Geschick einsetzen kann, wenn ich Installationen baue.

In Weimar habe ich dann freie Kunst studiert, im Projektstudium, hier habe ich das Arbeiten am Konzept gelernt und in Dresden habe ich dann noch einmal Bildhauerei studiert, aber in einer Klasse für architekturbezogene Medien. Das war dann wieder mehr Werk orientiert.

NTCR: Den Zusammenhang zwischen Bildhauerei und Musik finde ich interessant. Auf deiner Website schreibst du, dass dein „Verständnis von Kunst ein Raumbildendes“ ist.1 War das für dich immer so klar, dass mit der Musik genauso zu handhaben wie mit der Bildhauerei? Und kann mensch überhaupt von „genauso“ sprechen, also die Methoden der Bildhauerei – etwas zu entschälen, zum Kern vorzudringen – auch auf die Musik anzuwenden?

Anna Schimkat: Ja, wenn ich mit Geräuschen arbeite, könnte man das so bezeichnen, nur dass ich es jetzt nicht mehr mit dem Schnitzmesser, sondern mit der Maus mache. Die Geräusche, die uns umgeben, machen einen Aussenraum. Wenn ich vor einer Skulptur stehe, beschreibt die Skulptur auch einen Raum, auf den ich gucken kann.

Der Aussenraum der Geräusche umhüllt mich, während die Skulptur immer etwas ist, auf das ich sozusagen von oben drauf schauen würde. Das ist der größte Unterschied: dass ich den mich umhüllenden Raum benutze und zurecht schneide, damit man den wieder verkleinern und drauf gucken kann.

In Dresden habe ich ein Haus aufgenommen, die Geräusche des Hauses, und habe – es hat so tolle elektrische Rollläden gehabt – zum Beispiel alle Rollläden aufgenommen. Ausserdem hat es einen Copyshop im unteren Stockwerk gegeben, dort habe ich auch aufgenommen. Also erstmal die Geräusche des Hauses, wie Heizung, Türen und Fenster. Das heißt, die Eigengeräusche des Hauses. Im zweiten Schritt dann die Nutzer des Hauses, wie Kopiergeräte und Schneidegeräte und daraus eine Collage komponiert. Die konnte man dann live hören, so dass man wieder von innen nach außen auf das Haus guckt, so dass das Haus eine Klangwelt wird.

NTCR: Wie bist du dann von der Bildhauerei zur Musik gekommen?

Anna Schimkat: Diese klassische Ausbildung als Bildhauerin ist eine handwerkliche Ausbildung. Die habe ich versucht abzulegen als ich angefangen habe zu studieren und mich tiefergehend mit Kunst beschäftigt habe. Nicht nur als Betrachterin, sondern als Künstlerin habe ich mich versucht vom Bild – vom klassischen „Kunstwerk“ – abzuwenden. Das hängt auch damit zusammen, dass ich mich dem Hören zugewendet habe. Vielleicht hat das auch mit einer „Werkverweigerungshaltung“ zu tun, aber das Hören ist für mich schon immer wichtig und beschreibt für mich einen Raum. Musik ist für mich wichtig, auch durch Jugend- und Popkultur Erfahrungen, Techno und Gruftizeiten zum Beispiel!

Bei der Arbeit mit Geräuschkompositionen öffnet sich für mich ein Feld, in dem ich auf das Erschaffen von Bildern verzichten kann; sie entstehen im Kopf, ohne dass ich sie visuell produzieren muss.

Meine erste Klang-Arbeit war eine Arbeit, für die ich mir ein DAT-Gerät eingepackt und ein Mikrofon angesteckt habe und auf Reisen gegangen bin. Damals ging es mir um Zeitwahrnehmung, ich habe mich mit Echtzeit beschäftigt. Ich habe ständig Kassetten gewechselt und vierundzwanzig Stunden am Stück aufgenommen – drei Tage lang. In der Installation war das ungekürzt zu hören.

Das hab ich dann auf VHS Kassetten überspielt, weil es nichts anderes gab, was so lange gespeichert hat. Ich wollte, dass man die Zeit wirklich nachempfinden kann. Ich war alleine unterwegs und da hört man einfach auch mal stundenlang nichts. Ich bin damals zu meiner Großmutter gefahren, die hatte einen Schlaganfall, lag im Bett und ich habe sie als Urlaubsvertretung meiner Tante betreut. Diese Zeitwahrnehmung konnte ich gut mit den Geräuschen in Verbindung bringen und sie darüber transportieren. Das war der Anfang, wie ich auf Klangkunst gekommen bin, über die Wahrnehmungsfrage. Also wie kann ich etwas wahrnehmbar machen und wie nehme ich selber wahr. Wie kann ich eine Wahrnehmung oder Reaktion erzeugen, im weitesten Sinn ein Gefühl, eine Reflexion. Wie entsteht Resonanz? Mit Resonanz ist das physikalische Mitschwingen eines Körpers mit einem anderen gemeint, als auch der Widerhall, den die Weltbeziehung im Menschen erzeugt.

NTCR: Du lädst die Hörer*innen damit ein, deine Reise zu begleiten…

Anna Schimkat: Ja, genau. Ich hatte damals als Hinweis ein Datum hingeschrieben. So ungeschnitten würde ich heute nicht mehr arbeiten, aber das war der Anfang: über eine eigene Wahrnehmung eine Wahrnehmung möglich machen. Das Thema der Wahrnehmung habe ich in den letzten Jahren vertieft.

Das Jahr 2011 war sehr prägend, der Aufenthalt in Montréal. Da hatte ich Gelegenheit am BRAMS Institut (BRAMS – International Laboratory for Brain, Music and Sound Research) reinzuschnuppern. Das ist ein Institut für Neurowissenschaften, die als erste nachgewiesen haben, dass Dopamin ausgeschüttet wird, wenn wir unsere Lieblingsmusik hören. Das was die Menschen eigentlich schon wussten, weil sie es via Gänsehaut oder anderen körperlichen Sensationen spüren. Aber sie haben es als erste mit dem bildgebenden Verfahren bewiesen.

Ich bin intensiver in das Thema eingestiegen und habe mich damit beschäftigt wie Hören funktioniert. Ich habe Vorträge angehört und von einem Wissenschaftler Geräusche zur Verfügung gestellt bekommen. Das war ein weißes Rauschen und Geräusche, mit denen Ratten trainiert wurden. Er hat an der Plastizität des Gehirns geforscht, ob alte Gehirne noch lernen können. Er hat den Ratten unter Laborbedingungen Tonfolgen vorgespielt, damit sie lernen und damit der auditive Kortex neue Zellen ausbildet. Als Gegenversuch hat er ihnen weißes Rauschen vorgespielt und festgestellt, dass sie das total lahm legt. Sie sind müde geworden und haben nichts mehr gemacht. Das Gehirn hat aufgehört zu arbeiten – eben darüber dass der auditive Kortex beeinflusst wurde. Und mit Pipmix Tönen hat er sie stimuliert, so dass sie gelernt haben. Er hat damit bewiesen, dass auch alte Gehirne fähig sind zu lernen. Aber was interessanter für mich war, war das weiße Rauschen Phänomen, dass man über den auditiven Kortex das Gehirn beeinflussen kann, so dass es aufhört zu arbeiten. Das heißt, ich kann Wahrnehmung erzeugen oder steuern, wenn ich über den auditiven Kortex gehe, wenn ich nur ein Gehirnareal anspreche und insbesondere, wenn ich das Hörzentrum beeinflusse. Das passte in meine Überlegungen gut rein.

NTCR: Der Begriff der Wahrnehmung ist ja ein zentraler Begriff deiner Arbeit. Ist das ein Begriff, der durch deine Arbeit zur dir gekommen ist – oder war der schon vorher da?

Anna Schimkat: Über die Selbstbeobachtung. Tatsächlich in dem Moment, als ich über dieses weiße Rauschen nachgedacht habe und über die Beeinflussung der gesamten Wahrnehmung, des gesamten menschlichen Seins über den auditiven Kortex. Da hab ich mich gefragt, welche Auswirkungen die vorhandenen Geräusche auf unser Dasein, auf unser Verhalten und auf unsere Stimmung haben. So bin ich auf Leibniz gekommen.

Ich habe angefangen theoretisch dazu zu arbeiten und bin auf Leibniz‘ Monadentheorie gekommen. Über seine Beschreibungen der Bewusstseinsebenen bin ich auf den Begriff der Apperzeption gekommen. Neben der Rezeption und der Perzeption ist das die Ebene, die uns zum Handeln befähigt. Eine Wahrnehmung ohne eine weitere Folge wäre ja total uninteressant. Das ist es, was uns Menschen ausmacht oder ausmachen kann.

Da ist dann „c8h11no2“ entstanden, ein zwanzig Minuten Audiostück. Es fängt mit weißen Rauschen, braunen Rauschen und pinken Rauschen an, ein bisschen gemischt und dann geht es über in Rauschen das uns umgibt. Hier in Deutschland ist das gar nicht so stark, aber in Kanada zum Beispiel oder aus England kenne ich es auch, sind Klimaanlagen total präsent. Und Klimaanlagen rauschen die ganze Zeit oder Fahrstühle oder große Firmen, Fabriken. Dieses Grundrauschen – hier im Hintergrund rauscht die Straße die ganze Zeit – beeinflusst uns. Und das habe ich dann versucht in diesem Stück zu verarbeiten indem ich verschiedene Grundrauschen aufgenommen und sie gemischt habe. In dem Stück habe ich auch die Pipmix Töne genutzt. Das alles geht dann über zu einem Schrei aus einem Eishockeystadion, als der Stadionsprecher ruft: „Make some noise!“ und alle machen: „Yeah!“ und klatschen. Das ist der Moment, in dem alles zusammenkommt. Und da kommt die Gänsehaut, wenn Menschen jubeln, da wird Dopamin ausgeschüttet. Es steigert sich und dann fällt es wieder in sich zusammen. Bei dem Stück hat das ganz gut funktioniert.

NTCR: Das mit dem Rauschen ist interessant, es kann nah sein oder sehr weit weg, eine intime Atmosphäre erzeugen oder eine entfremdete, je nachdem wie es eingesetzt wird…

Anna Schimkat: Ja, und je nachdem wie man sich drauf einlässt. Normalerweise sind es Geräusche, die wir nur so nebenbei wahrnehmen. Also, was ich auch von dem Haus erzählt habe, das nimmt man vielleicht für einen Moment wahr: die Jalousie, die lustig quietscht oder man ist genervt davon, aber wenn man das dann als Rhythmus hört und wenn es dann immer wieder kommt und dadurch ein Rhythmus entsteht, wenn man dass erkennt und durch’s Haus geht, dann fängt dieses ganze Haus an Musik oder Klang zu werden.

Ich tue mich ein bisschen schwer mit dem Begriff Musik, weil ich eigentlich keine Musikerin bin. Deswegen würde ich eher Klangkunst sagen. Obwohl sich das in der experimentellen Musik vermischt oder aufweicht.

NTCR: Du arbeitest unter anderem mit Loops. Warum entscheidest du dich für einen Rhythmus aus Geräuschen?

Anna Schimkat: Ich bin natürlich auch nicht frei von meinen eigenen Wahrnehmungen und von meinen eigenen Vorlieben. Was ich nicht mache ist gerade vier Viertel Takte aus Geräuschen zu bauen. Ich versuche die Geräusche als solches den Rhythmus vorgeben zu lassen. Klar, dadurch dass sie sich wiederholen entstehen Rhythmen. Ich versuche aber, mich nicht an Takte zu halten sondern räume dem Zufall immer Platz ein und versuche ihm Platz zu lassen, dass er sein kann.

Zitat dazu aus einem Text für die Ausstellung „Von Monaden und linearen Kreisen“ im Kunstraum Michael Barthel:

„Das Echo ist aber auch ein Phänomen der akustischen Erfahrung und so etwas wie das Paradigma für die Wiederholung in der Musik, eine alte, aus der räumlichen Wahrnehmung stammende Form der Vervielfachung. Vervielfachung. Vervielfachung. Dass der Raum die Wiederholung erzeugt und in Musik Raum durch Wiederholung erzeugt wird. Wiederholung ist aber gegen die Subjektivseite gerichtet, sagt einer und weiter, denn der utopische Gehalt des Subjekts ist das Nichtidentische, während das identische, das Standartisierte den standartisierten Waren der alles über einen Kamm scherenden Konsumgesellschaft entspricht. Die Repetition kann aber Pointierung der Objektseite sein. Und das Subjektive bündeln. Dann heißt es Singularität versus Wiederholung, Einmaligkeit mit Schlussstrich mit zwei Punkten. Das wiederholte Material wird fokussiert. Werden offene Texturen verwendet, wird der Fokus nicht ins transzendente abgleiten, sagt wieder einer.“2

Und die Rhythmisierung der Welt, die gibt es ja auch in unserer Umwelt. Wir hören hier gerade dieses Ampelticken. Das ist ein ganz regelmäßiges Geräusch, dass dein Umfeld rhythmisiert. Das gibt es auch mit anderen Geräuschen. Diese Kaffeemaschine, die wir gerade gehört haben, das Mahlen und das Einsetzen des Halters in die Kaffeemaschine, diese ganz typischen Geräusche einer Kaffeemaschine sind ja auch ein Rhythmus. Es ist unregelmäßig, aber es ist ein Geräusch, das immer wieder an diesen Ort kehrt und ihn rhythmisiert.

NTCR: Aber wir Menschen sind es doch die Ampeln bauen und Kaffeemaschinen, also geben wir den Rhythmus vor…

Anna Schimkat: Wenn ich sage, die uns umgebende Umwelt, meine ich vor allem die zivilisatorische Welt. Das ist mein Fokus. Nachdem ich mich mit dem Hören als solches beschäftigt habe, ist mein Blick wieder weggegangen von dem rein physiologischen Vorgang. Ich habe gemerkt, dass das was mich interessiert, vor allem diese zivilisatorische Umwelt ist, die wir in Anführungsstrichen Zivilisation bezeichnen.

Selbst wenn ich jetzt die Naturgeräusche bearbeite, dann ist es trotzdem mit dem Blick des zivilisierten Menschen, der zum Beispiel Vogelgeräusche katalogisiert und analysiert und manchmal ab absurdum führt. Und so interessieren mich eben auch Geräusche, wie die von der Kläranlage. Da bin ich gezielt hingegangen und habe Objekte oder Anlagen aufgenommen, die für mich sinnbildlich für Zivilisation stehen. Eine Kläranlage, eine Ampel, eine Kaffeemaschine – das sind Dinge, die wir als Menschen hervorgebracht haben.

NTCR: Mit „zivilisierter Welt“ beziehungsweise „Zivilisation“ meinst du da eine allgemeine Entwicklung der Menschheitsgeschichte?

Anna Schimkat: Ja, den momentanen Entwicklungsstand der Gesellschaft, die uns umgebende Umwelt. Das, was wir erschaffen haben und was auch da ist, ohne dass wir es jeden Tag von Neuem erschaffen. Uns ist das nicht jeden Tag bewusst. Wir leben schon Generationen in dieser Welt, so dass es fast schon gottgegeben wirkt, wenn wir da so blind durchgehen…was die meisten machen. Es ist halt da und wird nicht in Frage gestellt.

NTCR: Dann ist es ja gut, das mit Kunst in Frage zu stellen…

Anna Schimkat: Ja, oder mit der Apperzeption, damit wieder zu einer Handlung zu kommen.

NTCR: Kannst du die drei Begriffe Rezeption, Perzeption und Apperzeption noch mal definieren?

Anna Schimkat: Rezeption, Perzeption, Apperzeption – ich erkläre es immer so: Wenn ich deinen Arm mit meiner Hand berühre, reagiert die Haut zuerst auf meine Berührung – das ist die Rezeption. Das ist ein rein physiologischer Vorgang, eine unbewusste Wahrnehmung. Die Perzeption ist, du weißt was da passiert, und hier kommen auch alle anderen Sinne zum Tragen. Du siehst meine Hand, die deine Hand schüttelt oder schütteln wird. Und Apperzeption ist, dass du handeln kannst. Das ist die Stufe der bewussten Wahrnehmung. Da ist zum Beispiel eine Begrüßung: wir umarmen uns oder schütteln die Hand. Darauf gibt es eine Reaktion oder auch nicht. Du kannst auch darauf reagieren und sagen: Nee, das will ich nicht. Das wäre genauso Apperzeption, wenn man anfängt zu handeln. So, jetzt ist es ganz still und das Ampelticken ist auch aus.

NTCR: Diese Schallbrechung erinnert mich an ein Werk von dir „Komposition (an 10 Fenstern)“. Dort gehst du mit einem Stock an Fenstergittern entlang und benutzt sie als Instrumente.

Anna Schimkat: Ja, die ist durch Klangerzeugung entstanden. Da ist kein vorhandener Ton, den ich gefunden habe. Also man findet den schon, indem man etwas gegen den Stahl schmeißt oder daran lang geht mit dem Stock, aber man muss schon aktiv werden.

NTCR: Das ist eine interessante Arbeit. Mir kam die Idee, es geht in der Arbeit darum, wie sich Schall verhält oder kann ich auch sagen „verhallt“?

Anna Schimkat: Ich habe das Geräusch, das draussen stattgefunden hat nach innen verlagert. Eigentlich kann man das Geräusch leicht zuordnen. Fast alle Leute kennen das Geräusch, wenn man an einem Gitter mit einem Stock langgeht. Wenn du das in den Innenraum verlagerst, dann hast du sofort eine ganz andere Assoziation. Du erschaffst einen ganz anderen Raum. Da ist dann der Schall. Ich habe die alten Säulen dieser Fabrik benutzt, weil die da waren. Das ist ein Prinzip meiner Arbeit, ich arbeite mit dem, was da ist. Die Säulen haben den Raum vorgegeben, aber durch den Klang wurde er geschlossen. Die Säulen stehen fünf in einer Doppelreihe und an jede kommt ein Lautsprecherpaar. Dadurch wird der Raum geschlossen. Vorher waren die Säulen nur Stützen im Raum, aber durch die Lautsprecher entsteht ein Raum im Raum. Viele Leute haben das Geräusch – es ist eine alte Baumwollfabrik, die Putzlappen hergestellt hat – mit den Industriemaschinen zusammengebracht. Sie haben es nicht als Fenstergitter erkannt.

Bildveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Anna Schimkat, Bildrecht: Anna Schimkat, http://www.annaschimkat.de

NTCR: Vielleicht verhält es sich wie eine Projektion. Sobald ich weiß, dass ich diesen Ort besuche, habe ich eine Assoziation.

Anna Schimkat: Ja, hier vor allem weil es so ein tackerndes Geräusch ist.

NTCR: An deiner Arbeit finde ich auch schön, dass sie minimalistisch ist. In deiner Arbeit „Ohne Titel (Licht in Damaskus)“ arbeitest du nur mit einem Karton und einer Stehlampe. Alltägliche Dinge, die zu Poesie werden…

Anna Schimkat: Ja, das war im Goethe-Institut in Damaskus. Mich interessiert es, Wahrnehmungsräume zu schaffen und die kann ich nur ortsbezogen schaffen. Der Karton und die Lampe sind etwas, was ich nur dort machen konnte. Den Karton habe ich aus dem Altpapiermüll der Kunsthochschule in Damaskus und die Lampe aus dem Goethe-Institut und die habe ich dann zusammengebracht. Was ich machen will ist, dass man da durch gehen und den eigenen Körper als Resonanzkörper einsetzen kann. Ich weiß schon, dass man das auch gegenüber einem Bild empfinden kann, aber ich kann es am Besten erreichen, indem ich es als begehbaren, wahrnehmbaren Raum mache. Deswegen brauche ich diese Ortsbezogenheit.

NTCR: Der Begriff „Wahrnehmungsräume“ ist das ein feststehender Begriff oder ein Begriff mit dem du arbeitest?

Anna Schimkat: Wahrscheinlich gibt’s den irgendwo auch. Und ich glaube, der ist nicht immer verständlich. Wenn ich über meine Arbeit nachdenke, dann sind das Wahrnehmungsräume. Weil ich Möglichkeiten schaffe, um bestimmte Dinge, Ideen, Gedanken, wahrzunehmen. Räume in denen man ein Erlebnis hat.

NTCR: Das ist ja auch gut, dass es diese Begrifflichkeit zur Beschreibung des eigenen Werkes gibt, über die mensch hin und wieder stolpert. Es kann ja auch etwas zum Andocken sein…

Anna Schimkat: Das ist gut, wenn es das hervorruft. Das Schreiben darüber ist eine andere Sache als das Machen. Wenn man die theoretische Arbeit dahinter, das Konzept ausarbeiten würde, wäre das eine mehrseitige Arbeit. Aber das gehört ja eigentlich nicht in die Beschreibung des Werkes, sondern ist Hintergrund. Aber darüber zu schreiben und das Werk zu beschreiben, da scheitern viele Künstler*innen, inklusive mir. Da müht man sich total ab an diesen einzelnen Begriffen und erfindet neue Begriffe, und denkt: „Jetzt hab ich das aber!“ – und dann versteht’s keiner.

Ausserdem gibt es die Codewörter im Kunstsprech, die sich alle kryptisch anhören. Es wäre super, wenn es mehr interdisziplinäre Verbindungen zwischen Leuten gäbe, die schreiben können und Leuten, die Kunst machen.

NTCR: Wobei es auch interessant ist, wenn es bei den Künstler*innen verbleibt. Es könnte ja auch auf die Beschreibung eines Kunstwerkes verzichtet werden und über das Kunstwerk ins Gespräch gekommen werden.

Anna Schimkat: Aber dafür muss man es wahrnehmen, also wahr-nehmen und nehmen. Man muss körperlich präsent sein. Und die Kunstwerke sind ja nicht immer da, sie sind ephemer, eine zeitlang sind sie da und dann sind sie weg.

Weil ich das Wort ephemer gerade benutzt habe, auch eine Sache, die mich beeinflusst hat, ist die Dekonstruktion des Werkgedankens. In der bildhauerischen Handwerksausbildung habe ich Objekte, Dinge geschaffen die da sind. Die kann man zerhacken oder verbrennen, aber die sind manifestiert. Das ist der traditionelle Kunstbegriff. Daran habe ich mich abgearbeitet. Danach habe ich versucht den Begriff für mich aufzulösen.

NTCR: Dein Werk verbleibt damit auf verschiedenen Ebenen: physisch, als Skulptur oder Schallplatte und auch virtuell…

Anna Schimkat: Ja, die Schallplatten sind tatsächlich Werke, sie funktionieren wie Auflageobjekte, wie Drucke bei Radierungen. Ich mache gerne eine Schallplatte, auch aus meinem persönlichen Interesse heraus, weil ich Vinyl toll finde. Im Gegensatz zum Druck kann die Schallplatte aber benutzt werden und das Werk erscheint erst durch die Nutzung.

NTCR: Was findest du an Vinyl toll?

Anna Schimkat: Ich finde es immer noch faszinierend, wie da dieser Klang aus dieser schwarzen Scheibe rauskommen kann. Da könnte ich auch immer noch stundenlang zugucken. Das war meine erste Musikerfahrung.

NTCR: Auch wegen der klanglichen Qualität?

Anna Schimkat: Ja, obwohl, wenn ich Auflagenplatten mache, dann habe ich Dubplates, die sind geschnitten – vielleicht, wenn die Schallplatten gepresst werden, werden sie noch mal ein bisschen besser. Aber allgemein, dass die Nadel in der Rille läuft und abtastet, das ist auch eine visuelle Ebene. Es wird nicht einfach reingeschoben und weg ist es. Bei der Kassette, finde ich, ist es auch eine visuelle Ebene – weil du das siehst, wie es sich dreht, ähnlich wie beim Tonband. Aber Tonband ist, glaube ich, einfach nicht meine Zeit. Wäre ich ein bisschen älter, wäre Tonband sicherlich auch das Ding. Aber als ich angefangen habe Musik zu hören, da waren die ersten Tonträger Schallplatten. Und da gehört diese visuelle Ebene dazu, dass es eben kein USB Stick ist.

Es entwicklet sich ein Gespräch über den Trend von USB-Sticks als Tonträger und über die allgemeine Speichermöglichkeit von Musik…

Anna Schimkat: Alle meine Sicherungskopien sind auf CD. Es gibt auch eine Festplatte. Aber wann funktioniert die Festplatte nicht mehr? Wann funktionieren CD’s nicht mehr? Und irgendwann ist alles hinüber und dann gibt es wirklich nur noch Papier, wo ein paar Notizen drauf sind.

NTCR: Dann musst du eine Notenschrift erfinden…

Anna Schimkat: Das ist etwas, was neu ist in meiner Arbeit, die Partitur. Damit man nachvollziehen kann was passiert. Das kommt vom Live-Auftreten. Da habe ich angefangen Notationen zu machen, damit ich das wiederholen kann. Wenn nicht nur der Computer spielt, sondern ich und meine Stimme oder die „schöne“ C-Flöte, dann brauche ich eine Notation.

NTCR: Folgst du einer klassischen Notation oder hast du eine eigene Notation?

Anna Schimkat: Das sind eher Wörter und aufgemalte Dateien. Manchmal mache ich kleine Krickel Zeichen – einen Vogel oder eine Maschine. Eher Zeitabläufe mit Pfeilen. Ich bin noch dabei eine eigene Notenschrift zu entwickeln.

Aktuell habe ich zwei Sachen gemacht, die auf Notenlinien sind. In Chemnitz habe ich eine Handlungsanweisung in den öffentlichen Raum tapeziert. Da habe ich Noten genutzt. Die habe ich aus dem „Solidaritätslied“ von Hanns Eisler ausgeschnitten. Ich habe die letzte Note der Wörter „Vorwärts“, „Vergessen“ und „Solidarität“ benutzt.

Das zweite Projekt habe ich Anfang des Jahres gemacht. Eine Handlungsanweisung für die Galerie Eigenheim. Eine Editionsbeigabe – graphische Zeichnungen auf Notenlinien. Es geht um die Akkorde G-Dur und C-Dur. Die sollen im Dreieck gesungen werden. Das heißt, Menschen stellen sich im Dreieck auf und singen einen Akkord. Da es um konkrete Töne geht, machen Notenlinien Sinn. So arbeite ich mich in unsere Musiktradition ein, ja!

NTCR: Hast du den Gesang des Dreiklangs im Dreieck ausprobiert?

Anna Schimkat: Mit Dreiklängen arbeite ich jetzt schon länger, vor allem mit dem G-Dur Dreiklang. Angefangen mit der Arbeit “Dreiklang„. Es ist ein bezeichnender Akkord, wegen seiner erhabenen Wirkung ein oft benutzter Akkord der Komponisten, die unsere Musiktradition gegründet haben. Über die denke ich nach. Außerdem: Wenn man die Schwingung der Erde als Ton nehmen würde, dann wäre das ein ‚G‘.

Im letzten Jahr habe ich einen Workshop mit blinden Menschen gemacht, mit denen ich einen Kirchenraum erforscht habe, den Klangraum einer Kirche (eines Museums). Wir haben uns in drei Gruppen im Dreieck aufgestellt und gesummt. Eine Ecke des Dreiecks war jeweils ein Ton und in der Mitte hörte man den gesamten Akkord. Einzelne sind in die Mitte gegangen um den Dreiklang zu hören um dann wieder zu ihrer Gruppe und ihrem Ton zurückzukommen. In dieser Übung habe ich den Akkord räumlich auseinander gezogen und im Raum verortet.

NTCR: Das ist eine visuelle Repräsentation des G-Dur Akkords…

Anna Schimkat: Genau, und mit der Sichtbarmachung spiele ich. So wie ich es mit dem „Solidaritätslied“ auch gemacht habe. Am Ende ist es ein Dreiklang, aber es ist ein Dreiklang, den ich visuell, graphisch aus den Noten herausgeholt habe. Es ist ein Dreiklang, aber kein bestimmter Dreiklang, den ein Komponist oder eine Harmonielehre vorgegeben hat.

Bei der Handlungsanweisung habe ich auf großes Notenpapier Dreiecke gezeichnet. Die Spitze des Dreiecks ist der Anfangspunkt für die Note. Die wiederholt sich, weil der menschliche Atem – und ich gehe vom Singen aus, so weit reicht, wie er reicht, also unterschiedlich. So habe ich es versucht aufzuschreiben. Die Sachen kann man jetzt wiederholen, also auch Leute, die nicht ich sind.

NTCR: Kannst du beschreiben, was du mit „Handlungsanweisung“ meinst? Worin besteht die Handlung?

Anna Schimkat: Das ist eine Aufforderung zur Handlung. Zum Beispiel das Poster, was ich jetzt gemacht habe, das ist im öffentlichen Raum tapeziert, es gibt einen kurzen Text und eine Zeichnung von Dreiecken, wie man sich aufstellen soll. Dazu gibt es die Notenlinien mit Noten. Im Text steht: „Drei mal drei Personen stellen sich an den Ecken dreier, vorher festgelegter Dreiecke auf. Die Dreiecke sind ineinander verschoben. Die Drehung beschreibt eine Vorwärtsbewegung der Form. Jedes Dreieck ist gegenüber dem vorigen um ein Drittel um seinen Mittelpunkt gedreht. Ein Eckpunkt entspricht einer Note. (…) Jede Stimme positioniert sich an einer Ecke der Dreiecke und singt/summt/brummt/aahht ihren Ton in ihrem eigenen Atemrhythmus. “

Bildveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Anna Schimkat, Bildrecht: Anna Schimkat, http://www.annaschimkat.de

NTCR: Hast du in Erfahrung bringen können, ob das Leute gemacht haben?

Anna Schimkat: Das weiß ich leider nicht, ich habe es für die Eröffnung mit Lautsprechern inszeniert. Ich glaube schon, dass es etwas auslöst und Fragen stellt, auch dass Menschen anfangen zu singen, aber nichtsdestotrotz setzt es eine gewisse Bildung voraus. Setzt eine Bereitschaft voraus. Und setzt voraus, dass man diesen Text auch versteht. Und auch Noten lesen kann. Selbst wenn ich die Handlungsanweisung intellektuell verstehe, aber keine Noten lesen kann, weiß ich auch nicht, wie ich die Töne „G“, „E“ und „Cis“ singen soll. Entweder du brauchst ein absolutes Gehör, damit du weißt, wie die Töne klingen oder du brauchst jemanden, der dir den Ton vorgibt oder einen Tongeber. Ich möchte es gerne mal mit einem Chor machen.

NTCR: Deine Arbeit ist sehr vielfältig, woran arbeitest du im Moment?

Anna Schimkat: Wir haben ja schon über das Ampelticken gesprochen…da denke ich gerade drüber nach. Im November habe ich eine Ausstellung in der Galerie „Drei Ringe“ und da werde ich mit den Ampeltönen arbeiten. Der Rhythmusgeber für die Stadt und das Leitsystem für blinde Menschen.

Danke an Anna Schimkat für das Interview!

 

Aktuelle Ausstellungen/Performances

Präsentation der Arbeiten von Anna Schimkat und Daniela Lehmann, die im Rahmen einer Residence auf dem Chemnitzer Sonnenberg entstanden sind: https://www.facebook.com/events/322773441491079

Bald: Kassettenveröffentlichung bei fragmentfactory, Hamburg, https://fragmentfactory.com

Links

Homepage https://annaschimkat.de

Hörstücke https://soundcloud.com/annaschimkat

Blog https://annaschimkat.tumblr.com

Projekte

A und V Projekt-und Hörgalerie (2007-2013) https://www.aundv.org

Lindenow – Netzwerk unabhängiger Kunsträume Leipzig Lindenau https://www.lindenow.org

Weitere Interviews

Auf dem Blog Wunderwesten.de (2013)

https://wunderwesten.de/interview/anna-schimkat

Auf Leipzig- Almanach – Das Online Feuilleton (2012)

https://www.leipzig-almanach.de/kunst_kunstraum-tage_gespraech_mit_anna_schimkat_moritz_arand.html

Cafe Ino

https://www.ino-cafe.de